Gast
Donnerstag, 17. Januar 2008 - 19:46





Für meine Frau Anne und meine Töchter Julia und Ines.
Sie wissen warum.













Inhalt

Gedanken zum Anfang

Die Entdeckung der Krankheit

Die Operation

Die Chemotherapie

Der Kurklinikaufenthalt

Rückkehr ins Arbeitsleben

Ausblick








Gedanken zum Anfang
Viele Menschen, die an einer Krebserkrankung litten und sie überlebt haben, sprechen davon, dass sie den Krebs besiegt hätten. Ich habe den Krebs, meinen Darmkrebs nicht besiegt. Ich habe keinen Sieg errungen. Ich habe ihn nur durch die Fähigkeiten von guten Ärzten, durch die Betreuung eines engagierten Pflegepersonals und besonders und in erster Linie durch die Liebe meiner Frau und meiner beiden Töchter überlebt. In meinem Körper befindet sich keine karzinöse Geschwulst mehr, er ist frei von lebensbedrohenden Metastasen, aber mein Kopf kann den Gedanken an ein Wiederaufbrechen der Krankheit nicht verdrängen. Meine Psyche wird nie mehr die sensiblen Phasen während der Chemotherapie vergessen können. Meine Seele wird nie mehr so unbelastet wie vorher in mir schwingen können. Den Krebs habe ich nicht besiegt. Nein, ich habe ihn überlebt und genieße dieses mir wieder geschenkte Leben in einem neuen Bewusstsein, mit großer Intensität und in neuen Dimensionen. Ich lebe und erlebe es wahrscheinlich in einer Tiefe wie ich es ohne diese Krankheit vielleicht nie hätte erfahren können. Dabei habe ich mich verändert und damit wird sich auch mein zukünftiges Leben verändern, obwohl ich manchmal nicht weiß, ob ich das eigentlich wirklich will oder kann.







Weihnachten
„Leben ist das was passiert, wenn du dabei bist Pläne für dein Leben zu schmieden“
John Lennon
Plane nicht nur, sondern lebe auch!
Mit dem Tod von George Harrison, dem stillen Mitglied der „Fab Four“, der Beatles, haben wir uns wieder an den obigen Spruch von John Lennon erinnert, der 1980 ermordet wurde. Gleichzeitig wurde uns dabei bewusst, wie unglaublich massiv und fundamental diese Vier mit ihrer Musik und dem Lebensgefühl, das sie vermittelten eine ganze Generation – auch uns – beeinflussten, prägten und deren Lebensweg mitgestalteten und veränderten.
„Leben ist das was passiert, wenn du dabei bist Pläne für dein Leben zu schmieden“
Gewiss ist Leben ohne Pläne nicht „lebbar“;
Gewiss bedeutet Leben in festen Bahnen und Schranken verlaufend Klarheit und Sicherheit;
Gewiss bedeutet geplantes Leben auch Freiheit und Geborgenheit;




Leben geschieht und ereignet sich
aber auch ohne Plan, denn:
Leben ist oft ein ungewisses Spiel;
Leben ist oft eine nicht kalkulierbare Herausforderung;
Leben ist oft ein unvorhergesehener Kampf;
Leben ist oft Kummer und Leid;
Leben ist oft ein nicht zu entschleierndes Mysterium.
Gewiss ist Leben meistens Freude, und
Leben ist ganz gewiss von Anfang an ein Geschenk.
Deshalb, vergesse dich nicht, tue dir Gutes, nehme dich und dein Wesen ernst, genieße die Momente des Glücks, erkenne deine Einzigartigkeit, nehme dieses Geschenk an und plane nicht nur, sondern lebe dein Leben.

Leben beginnt mit Weihnachten.




Oft habe ich mir in den letzten Monaten die Frage gestellt, warum ich gerade diesen Text zu Weihnachten vor dem Ausbruch meiner Krankheit an unsere Freunde und Verwandten geschrieben habe. Jedes Jahr zu Weihnachten schreibe ich einen Brief, aber allen bisherigen lag ein anderer Gedanke zu Grunde. Jetzt an Weihnachten stellte ich diese Überlegungen an. Ursächlich dafür war der Krebstod von George Harrison und ein Spruch von John Lennon, der mir in diesem Zusammenhang wieder in Erinnerung kam. Aber warum wählte ich gerade an Weihnachten vor dem Jahr der Entdeckung meiner Krebskrankheit die Reflexionen über das Leben aus? Zufall, Vorahnung? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich damals noch viele Pläne hatte und wusste wie ich mein Leben leben wollte.












Die Entdeckung der Krankheit
Nie war ich bisher in meinem Leben mit wirklich ernsthaften Krankheiten belastet. Natürlich war mein Körper wie bei den meisten Menschen ab und an geschwächt und damit anfällig für die üblichen Erkältungskrankheiten. Als begeisterter Fußballer brach ich mir beim Sport das Schlüsselbein, das Handgelenk und dehnte mir einige Bänder. Aber von schweren Erkrankungen blieb ich verschont. Mit entsprechend gesunder Ernährung und Bewegung glaubte ich dem Schicksal, das meinen Vater und dessen Vater ereilte, entgegen wirken zu können. Beide starben im Alter von achtundfünfzig bzw. dreiundfünfzig Jahren an einem Herzinfarkt. Sport trug zu meiner positiven Lebenseinstellung bei und bescherte mir viele Situationen der Zufriedenheit und Ausgeglichenheit. Mit sieben Jahren begann ich mit dem Fußballspiel. Überall bescheinigte man mir ein technisch nicht unbegabter Spieler zu sein, jedoch fehlte mir die entsprechende Grundschnelligkeit und die „natürliche Härte“, die notwendig sind, um in höheren Ligen zu spielen. Aber die Freude, die Kameradschaft und die Gewissheit in einer Mannschaft auf- und angenommen zu sein, waren bedeutende Erfahrungen für andere Lebensbereiche neben dem Sport. Auch der Ehrgeiz siegen zu wollen begleitete mich mein ganzes Leben, auch heute noch beim Fußballspiel in der Freizeit. Neben dem Fußballsport liebte ich auch das Laufen. Es bereitete mir ebenfalls große Freude. Beim Laufen konnte ich meine Probleme des Alltags, des Berufslebens aufarbeiten. Es befreite mich von vielen Lasten und öffnete mir neue Gedankenhorizonte, die die täglichen Belastungen relativierten. Laufen gehörte zu mir und zu meinem Leben. Ich lief zwei bis dreimal die Woche fünf bis acht Kilometer. Die Freiheit und Unbeschwertheit, das Vergessenkönnen und die absolute Unbekümmertheit erlebte ich jedoch nur beim Fußballspiel. Der Ball, das vollkommenste und schönste Spielgerät, das es gibt, und das Tor übten eine derart außergewöhnliche Faszination auf mich aus, dass für neunzig Minuten alles andere seine Bedeutung und Wichtigkeit verlor. Schön, dass ich hierbei mein Kind Ich ausleben und bewahren durfte.
Als Anhänger der mediterranen Küche erfreuten sich meine Frau, unsere Töchter und ich selbst an Pasta und Salaten in allen Variationen. Unsere Ernährung , so bescheinigte man uns später, trug nichts zum Ausbruch meiner Krankheit bei.
Um meine Psyche und mein Gewissen zu beruhigen, ließ ich mich ab meinem 27. Lebensjahr im Rhythmus von achtzehn bis
vierundzwanzig Monaten internistisch untersuchen. Alle Befunde, inklusive der regelmäßigen elektrokardiologischen Untersuchungen waren für mich immer erfreulich und beruhigend, obwohl ich einen minimal erhöhten diastolischen Blutdruckwert hatte. Ich war ein Mann mit einundfünfzig Jahren, der mit einer optimistischen Lebenseinstellung, meistens mit einem Lächeln im Gesicht- so sagte man mir zumindest - seiner beruflichen Tätigkeit nachging und auch privat versuchte, sein Leben so zu gestalten. Von mir selbst behauptete ich beinahe blasphemisch im Gespräch mit anderen, dass ich vielleicht wegen meiner genetischen Belastung an einer Kreislaufkrankheit sterben, aber niemals an Krebs erkranken werde, da ich kein Krebstyp bin. Ich war kein Mensch, der nachdenklich, grüblerisch in sich hineinhörte und am Leben keine Freude empfand. Ich war das krasse Gegenteil, so dachte ich. Und dann kam ein Dienstag im Oktober. Wie beinahe jeden Morgen aß ich nach dem Aufstehen mein Müsli, trank meinen Kaffee, las die Zeitung, ging anschließend ins Bad, um mich zu duschen und zu rasieren. Wie jeden Morgen suchte ich auch die Toilette auf und entdeckte plötzlich rot gefärbte Stellen auf meinem Stuhl. Ich dachte an eine geplatzte Hämorrhoide, war aber trotzdem etwas beunruhigt. Am frühen Abend sprach ich mit Anne über meine Entdeckung. Sie machte mir bewusst, dass ich einen Internisten zur weiteren Abklärung aufsuchen musste. Deshalb telefonierte ich noch am selben Abend mit meinem Cousin, der als Kardiologe und Internist eine Praxis führt und schilderte ihm meine Beobachtungen. Da in den folgenden Tagen kein offizieller Termin mehr für mich zur Verfügung stand, vereinbarte er mit mir einen Untersuchungstermin am folgenden Abend nach der normalen Sprechstunde. Eine „konventionelle Untersuchung“ lieferte keine neuen Erkenntnisse. Deshalb erklärte er mir, müsse eine Darmspiegelung vorgenommen werden, die letztendlich als Diagnoseinstrument Klarheit verschaffen sollte über die Herkunft des Blutes im Stuhl. Am darauffolgenden Samstag sollte die Spiegelung außerhalb der üblichen Sprechzeiten erfolgen. Er schrieb mir ein Rezept für eine Flüssigkeit von der ich drei Liter am Tag und ein Liter am Morgen vor der Untersuchung trinken sollte, um den Darm vollkommen zu entleeren. Das Mittel schmecke nicht besonders gut, deshalb könne ich alle anderen Getränke, die ich angenehm empfinde, zu mir nehmen, fügte er etwas ironisch lächelnd hinzu. Ist man jedoch gezwungen drei Liter egal welchen Getränks zu trinken, schmeckt selbst der köstlichste Cocktail, das frischeste Bier, der gesündeste Orangensaft nur noch wie ein“ Brechmittel“. Das wusste ich aber erst bei Einnahme des Abführgetränks. Um 15.00 Uhr trank ich den ersten Liter einer für mich ekelhaft riechenden und an der Oberfläche wie fauliges Fischwasser aussehenden Flüssigkeit. Um 16.00 Uhr begann ich mit dem zweiten Liter. Jedes zu trinkende Glas wurde zur Qual und ein dritter Liter stand mir noch bevor, obwohl ich schon mehr Zeit auf der Toilette als in der Wohnung verbrachte. Immer wieder entleerte sich mein Darm und erst gegen 22.00 Uhr beruhigte er sich und ich versuchte ziemlich geschwächt Schlaf zu finden. Um sechs ertönte am Samstagmorgen der Radiowecker und ich wusste, dass nun der letzte Liter zu trinken war. Mit Ekel dachte ich daran, stand auf und beschloss diese Tortur schnell hinter mich zu bringen. Einige Male musste ich die Toilette aufsuchen, aber nur noch eine klare Flüssigkeit entwich meinem Körper. Um 8.00 Uhr fuhr mich Anne zur Untersuchung in die Praxis. Mein Cousin und seine Frau – eine ehemalige Krankenschwester- waren bereits anwesend. Die Praxis war abgedunkelt und eine schlechte Luft lag in den Räumen. Nach einer Beruhigungsspritze in den Unterarm führte mein Cousin das Gerät in meinen Darm ein und begann mit der Untersuchung. Leicht benommen konnte ich am Bildschirm die Bilder der Sonde mitverfolgen. Zunächst schien alles in Ordnung zu sein. Der Darm war rein, gut durchblutet und auch nicht auffällig in den Ausstülpungen. Doch plötzlich entdeckte er ein pilzförmiges Gewebe mit Schirm und breitem Fuß nicht weit entfernt vom Darmausgang. Es war zu groß, um mit der Schlinge entfernt zu werden. Mein Cousin entnahm ein Stück des Gewebes, das eingehend in einem Labor analysiert werden sollte. Die Größe des Geschwulst erforderte jedoch eine Operation unabhängig davon, ob es gutartig oder karzinös war. Noch immer war ich von der Spritze benommen und nach einem Gespräch zwischen Anne und meinem Cousin fuhr mich Anne nach Hause. Während der Fahrt sprachen wir kein Wort. Anne war total in sich gekehrt. In meinem und unserem Leben schien sich etwas total verändert zu haben.
Den Sonntag versuchten wir wie üblich zu gestalten. Dies bedeutet, dass meine Frau als Lehrerin an einer Grundschule ihren Unterricht wie immer mit großer Genauigkeit und viel Liebe zum Detail vorbereitete, was die Zeit am Morgen beanspruchte. Als Schulleiter einer größeren Grund – und Hauptschule mit circa 25 Lehrkräften und 400 Schülerinnen und Schülern hatte ich für den Montagnachmittag eine Gesamtlehrerkonferenz vorzubereiten. Es schien also ein ganz gewöhnlicher Sonntag zu sein, aber uns beiden ging die Geschwulst nicht aus dem Kopf. Wir konnten sie nicht aus unseren Gedanken verdrängen. Nervosität machte sich breit und ich war unruhig und angespannt. Die Unruhe und die Anspannung hielten an und erstreckten sich auch auf die Konferenz am Montag. Obwohl ich darum bemüht war, keine Signale der Unsicherheit und der Angst auszusenden, berichteten mir meine Kollegen später, dass ich einzelne Passagen in dieser Konferenz verkrampft geleitet und in einigen Gesprächssituationen eine sehr intolerante Haltung vertreten hätte. Der Dienstagmorgen war geprägt von Hoffnung und Bangen, von Unsicherheit und Selbstberuhigung, von Verzweiflung und gespielter Normalität. Um 15.30 Uhr erhielt ich einen Anruf von meinem Cousin. Er teilte mir mit, dass die Geschwulst karzinös sei und eine Operation umgehend vorgenommen werden müsste. Verdrängt, gehofft, gebangt ,vergebens. Die schlimmsten Befürchtungen mit denen ich eigentlich, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, nach der Untersuchung gerechnet hatte, waren Wirklichkeit , waren unwiderrufliche Realität. Ich hatte Krebs. Ich hatte die Krankheit von der ich beinahe gotteslästerlich vorher behauptete sie niemals zu bekommen. Wie konnte das möglich sein? War es das? War alles Bisherige umsonst? Hat es sich überhaupt gelohnt zu leben? Es zog mir nicht - wie häufig von Menschen in einer solchen Situation geäußert- den Boden unter den Füßen weg. Aber das, was mir jetzt in Gedanken begegnete war kein starkes, schönes und gutes Leben, nein es war ein schwaches, krankes, bedrückendes Leben. Es war etwas, das ich nicht beeinflussen, das ich nicht steuern konnte. Mit mir geschah etwas. Das machte schutzlos. Das machte hilflos. Das machte Angst. Die alles entscheidende Frage nach dem Sinn meines Lebens musste ich mir stellen. Ich stellte sie, aber eine Antwort konnte ich nicht finden.
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Es galt aber eine Entscheidung zu treffen, um überhaupt noch eine Chance auf Leben zu besitzen. Vielleicht finde ich dann später eine Antwort auf diese Frage, dachte ich. Ich musste mich entscheiden, in welcher Klinik die Operation durchgeführt
werden sollte. Nach Rücksprache mit meiner Frau und meinen Töchtern entschied ich mich für das Kreiskrankenhaus in meinem Wohnort. Hier war es für Anne, Julia und Ines einfacher mich zu besuchen. Außerdem garantierte die Größe des Kreiskrankenhauses keinen Massenbetrieb und verhieß mehr persönliche Betreuung und Nähe. Nach einem Telefongespräch meines Cousins mit dem Chirurgen, der mich operieren sollte, musste ich am Mittwochmorgen um acht Uhr in der Klinik sein. Am Abend vor der Aufnahme verspürte jeder eine bedrückende Atmosphäre. Auch Julia und Ines, die in der Lage sind mit einem lockeren Spruch eine Situation zu entkrampfen, waren davon betroffen. Sie waren wie Anne und ich gefangen von dem Gedanken: „ Was ist, wenn?“; „Warum wir?“ Entweder oder? Die Frage nach dem Sinn hatte uns eingeholt und mit aller Gewalt getroffen. Trotz oder gerade wegen der Ungewissheit, trotz der unausgesprochenen Angst, die uns alle befallen hatte, spürte ich- und das war beglückend zu erfahren –wir sind eine Familie. Eine Familie, die Halt, Kraft, Zuversicht spenden kann. Eine Familie, die einerseits fähig ist zu Heiterkeit, zu Lust, aber andererseits auch zu Mitgefühl, Traurigkeit, Nachdenklichkeit, eine Familie, die trägt und für die es sich zu kämpfen lohnt. Julia und Ines umarmten und küssten mich mit Tränen in den Augen bevor sie gingen. Anne und ich sprachen nicht viel. Ich öffnete eine Flasche Rotwein. Wir setzten uns am großen Esstisch gegenüber. Wir nahmen unsere Gläser in die Hand, stießen miteinander an und schauten uns wie üblich bevor wir einen Schluck tranken ins Gesicht. Eigentlich schmeckte der Wein wie immer, aber es war ein besonderes Glas, zu einem besonderen Zeitpunkt. Ich schaute Anne an und sagte: „Eines musst du mir versprechen. Tritt eine Situation während meines Krankheitsverlaufes ein, in der mir die Ärzte erklären, dass es keine Heilung mehr geben wird, musst du versuchen mich zu verstehen, wenn ich selbst und aus freiem Willen ohne Berücksichtigung von moralischen und ethischen Werten über das Ende meines Lebens entscheiden will“. Anne streichelte meine Hand und gab mir zu Antwort: „ Ich will mit dir alt werden“.








Die Operation
Nach einer unruhigen Nacht brachte mich meine Frau morgens um 7.30 Uhr in die Klinik. Sofort nahm man die üblichen Untersuchungen vor. Mir wurde Blut entnommen und dann die Lunge geröntgt. Der Arzt diagnostizierte, dass das Organ noch nicht von Metastasen besetzt sei. Trotz dieses Befundes konnte ich keine Erleichterung empfinden. Die bei solchen Krankheitsfällen übliche Ultraschalluntersuchung und ein Elektrokardiogramm schlossen sich an. Dann wies man mir ein Zweibettzimmer zu. Zu meiner Überraschung kannte ich den Mitpatienten. Er stammte aus dem Dorf in dem ich als Schulleiter tätig war. Wir berichteten einander unsere Krankheitsgeschichte. Er fiel bei einer Reparatur am Haus von der Leiter, verletzte sich am Rücken und war gezwungen mehrere Wochen relativ regungslos auf dem Rücken zu liegen, um eine Querschnittslähmung zu vermeiden. Trotz seiner schweren Verletzung schien es mir, dass er im Vergleich zu mir die bessere Position innehatte. Er konnte auf jeden Fall weiterleben, bei mir war noch nicht entschieden, ob es ein zukünftiges Leben geben oder ob es in einigen Monaten beendet sein würde.
Am Nachmittag kamen meine Frau und meine beiden Töchter ins Krankenhaus. Draußen nieselte es. Es war ein trüber und dunkler Tag. Das Wetter spiegelte mein seelisches Befinden wider. In mir war es auch dunkel und trübe. Ich hatte Angst vor der Operation, ich hatte Angst um mein Leben. Anne, Julia und Ines waren ebenfalls bedrückt, obwohl sie mir Mut zuzusprechen und dem Ganzen eine Note der Normalität zu verleihen suchten. Es klopfte an die Tür und eine junge Assistenzärztin trat ein. Sie hatte die Aufgabe, mir die Risiken und eventuell auftretenden Komplikationen und Folgeerscheinungen der Operation zu erläutern. Mit gefühlsmäßiger Distanz - wie es eine gewisse Professionalität in ihrem Beruf erforderte – ohne Distanz, ohne einen gefühlsmäßigen Abstand zu Patienten kann man diese Arbeit nicht verrichten – sprach sie von einer großen Operation, die mir bevorstand. Immer stärker sackte ich in mir zusammen, als ich vernahm, dass eventuell eine Stoma, also ein künstlicher Darmausgang gelegt werden könnte, dass der Harnleiter abgetrennt und dass die Operation zum Verlust der Libido und zu Unfruchtbarkeit führen kann. Doch zur Operation gab es keine Alternative, das konstatierten sowohl die Chefärztin der Anästhesie als auch der Professor, der mich am folgenden Tag operieren sollte. Mit zwei hellblauen Augen, die etwas Entschlossenes, vielleicht sogar etwas Hartes ausdrückten, blickte er mir ins Gesicht und sagte: „ Sie haben keine andere Chance, das Ding muss raus.“ Er ordnete am Abend, nachdem Anne mich mit einem liebevollen Abschiedsgruß verlassen hatte, noch eine Ultraschalluntersuchung der Leber an, denn die Leber ist wie die Lunge ein Organ, das zuerst mit Metastasen bei einer fortgeschrittenen Krankheit befallen wird.
Die Anästhesistin stellte im Vorbereitungsgespräch fest, dass mein Herz eine Belastung von fünfundsiebzig Watt aushalten müsste. Dies sei jedoch kein Risiko für mich, da sie den vorliegenden ärztlichen Berichten entnehmen könnte, dass ich bei dem letzten Belastungs- EKG eine Leistung von zweihundertfünfzig Watt in der Belastungsphase erreicht hatte. Meine regelmäßige sportliche Betätigung war eine gute Voraussetzung für die Narkose.
Am späten Abend untersuchte mich die Assistenzärztin. Bei der Sonographie waren keine Metastasen auf der Leber erkennbar. Eine genauere Untersuchung sollte jedoch an der offenen Leber während der Operation erfolgen.
Der Darm hatte sich zu diesem Zeitpunkt vollkommen entleert und es war jetzt Zeit zur Bettruhe. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, da mein Zimmernachbar beim Schnarchen so laut wurde, dass ich nicht zur Ruhe kommen konnte. Um Mitternacht bat ich eine Schwester mir ein stärkeres Schlafmittel zu geben. Bald schlief ich nach der Einnahme ein. Gegen fünf Uhr weckte mich die Schwester. Sie entfernte mir die Haare im Bereich des Bauches und des Schambeines. Ein erstes Beruhigungsmedikament musste ich einnehmen. Um sieben Uhr schob man mich von den Medikamenten schon benommen in den Operationssaal. In meiner Erinnerung sehe ich einen Arzt, der mir eine Flüssigkeit in die Braunüle spritzt, die man in meinen Arm gelegt hatte. Ich verlor das Bewusstsein.
Ich hörte die Stimme eines mir bekannten Oberarztes, den ich grüßte. Jetzt wurde mir bewusst, dass die Operation vorbei war. Ich lebte. In diesem Wissen schlief ich wieder ein. Ein angenehmer Geschmack auf den Lippen begleitete mein Aufwachen auf der Intensivstation. Eine Schwester befeuchtete meinen Mund mit einem Stäbchen, das nach Zitrone schmeckte. Ich erwachte mit Schläuchen in der Nase, im Bauchraum und am Harnleiter. In meine Halsschlagader war eine Kanüle eingeführt, die zum Herzen führte. In sie wurden alle Medikamente injiziert, die ich zum Überleben benötigte. Außerdem war sie verbunden mit einer Art „Pumpe“, die ein schmerzlinderndes Medikament enthielt. Mit einem Knopfdruck konnte ich sie bedienen. Immer wenn die Schmerzen unerträglich wurden, konnte ich mir selbst eine Dosis verabreichen, die mich müde machte, die Schmerzen linderte und mich schlafen ließ.
Im Unterbewusstsein glaubte ich zu spüren wie jemand meinen Arm streichelte. Ich öffnete die Augen. Anne und Ines waren da. Der Versuch eines Lächelns huschte über mein Gesicht. Sie waren ganz nahe bei mir. Ich glaube zu ihnen den Satz gesagt zu haben: „ Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, denn ich
bin mit mir im Reinen“. Wieder schlief ich ein. Anne und Ines waren gegangen, als ich wieder erwachte. Trotz der Wirkung der Narkotika hörte ich wie zwei junge Ärzte und eine Ärztin sich meinem Bett näherten und sich am Fußende über meinen gesundheitlichen Zustand und meine Operation austauschten,
ohne sich bei mir vorzustellen oder ein Wort mit mir zu wechseln. Ich empfand dieses Verhalten als Unhöflichkeit. Zunächst wollte ich sie darauf hinweisen, dass es der Anstand gebietet zu grüßen oder nach meinem Befinden zu fragen. Ich entschied mich jedoch dafür ruhig zu sein. Beim nächsten Besuch konnte ich aber nicht wieder schweigen. Die beiden jungen Ärzte traten ohne Gruß an das Fußende meines Bettes und sprachen über meine Krankheit und die medizinischen Diagnoseergebnisse. Nicht gerade freundlich meinte ich, dass die Höflichkeit es gebietet, sich mit Namen vorzustellen, wenn man als Arzt an das Bett eines Patienten tritt. „Außerdem liegt hier nicht „ ein Darmkrebs“ auf der Intensivstation, sondern ein Mensch mit Gefühlen, der zwar an lebensrettende Apparate und Maschinen angeschlossen ist, aber selbst nicht nur ein Fall, ein Objekt der Medizin ist, sondern ein Wesen mit Körper, Geist und Psyche, ein Mensch, der sich durch ein solches Verhalten in seiner Würde verletzt fühlt“, sagte ich zu ihnen. Von jetzt an versuchten die beiden Ärzte nicht mehr in die Nähe meines Bettes zu kommen. Waren sie jedoch gezwungen nach mir zu schauen, glaubte ich in ihren Gesichtern Betroffenheit, aber auch Ablehnung ablesen zu können. Das belastete mich schon, traf mich aber nicht mehr so tief wie beim erstenmal, denn die Krankenschwester kümmerte sich außergewöhnlich liebevoll um mich.
Wird man von Schmerzen geplagt, ist man dankbar um die Erfahrung des Schlafs und so schlief ich wieder ein. Im Zustand des Halbschlafes und des Erwachens hörte ich eine Stimme, die mich nach meinem Namen und meiner Krankheit fragte.
Es war ein Priester, der einen Teil seiner seelsorgerischen Aufgaben in der Klinik versah. Es war sein letzter Tag in der Klinik bevor er mit einer Gruppe von Jugendlichen einen Freizeitaufenthalt in den Bergen durchführte. Er musste nicht viel reden, er hörte mir die meiste Zeit still zu. Ich bat ihn für mich zu beten. „Obwohl ich kein regelmäßiger Kirchgänger bin, glaube ich an Gott“, erklärte ich ihm. „Die Beschäftigung mit philosophischen Gedanken hat mir einen Zugang zu Gott eröffnet, aber nicht der abstrakte Gott der Philosophen hat sich an mich zurückerinnert, sondern der persönliche Gott, der meinem Ich als Du gegenübersteht. Dafür bin ich dankbar. Dieser Glaube gibt mir Kraft und Vertrauen für meine weitere Genesung“, sagte ich zu ihm. Er versprach für mich zu beten und wünschte mir alles Gute und Gottes Segen.
Am Abend besuchte mich die Chefärztin der Anästhesie, eine gute Ärztin und eine beeindruckende Frau. Sie teilte mir mit, mein Zustand sei so stabil, dass ich am nächsten Morgen die Intensivstation verlassen kann und in ein Einzelzimmer gebracht werde, was Anne veranlasst hatte. Ich freute mich.
Was ist Wille? Man hört oft von Menschen, die darstellen , dass nur die Kraft ihres Willens sie in einer Extremsituation ans Ziel gebracht hat. Oft sind es Sportler, deren Körper wegen einer übermenschlichen Anstrengung an der Grenze der Erschöpfung angelangt ist, die trotzdem das Ziel erreichen, weil im Kopf ein Gedankengang eingesetzt hat, der es ihnen ermöglicht die körperlichen Strapazen zu überwinden. Heute weiß ich, dass ich mich damals auch in einer außerordentlichen Extremsituation befand, die mich nicht nur an die Grenzen meiner körperlichen Belastung durch die Schwere der Operation, sondern auch an die Grenzen meiner psychischen Belastbarkeit führte. Auch ich hatte einen Willen, einen solch starken Willen wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben aufgebracht hatte. Eigentlich war ich ein Mensch, der vielleicht
aus Bequemlichkeit oder aus Unwissenheit nie an seine Grenzen ging. Jetzt wollte ich es und arbeitete auch verstandesmäßig daran. Was war mein Ziel auf das sich zunächst alle Anstrengungen richteten? Es bestand darin, möglichst bald selbstständig ein bis zwei Schritte zum Waschbecken und zum Spiegel zu gehen, um mich zu waschen und zu rasieren. Meinen Wunsch richtete ich an eine Schwester, aber sie lehnte sofort strikt ab, da ich noch zu schwach sei. Ihr sei es außerdem nicht erlaubt die Kanülen an meinem Körper zu entfernen, was notwendig wäre, um an das Waschbecken zu gelangen. Aber ich gab nicht auf. Am Morgen nach der ersten Nacht in meinem Einzelzimmer auf der Normalstation überredete ich einen jungen Krankenpfleger aus dem ehemaligen Jugoslawien mir bei meinem Vorhaben zu helfen. Er hatte dort ein Studium der Medizin begonnen, floh jedoch wegen des Bürgerkrieges nach Deutschland und arbeitete jetzt als Pfleger. Wir fanden einander sympathisch. Er „stöpselte mich ab“, spritzte in die Ende der Kanülen eine Vitamin C Flüssigkeit, damit diese nicht verklebten und anschließend die Infusionen ohne Schwierigkeiten fortgesetzt werden konnten,. Zwei kleine Schritte vom Bett zum Waschbecken , wo ich mich auf einen kleinen Schemel setzen konnte, bedeuteten Erschöpfung, Schweißausbrüche und große Schmerzen. Der Pfleger fragt mich, ob er mich kurz allein lassen könne, um seine Arbeit in den anderen Zimmern fortzusetzen. Ich nickte ihm zu und er verließ das Zimmer. Ich rasierte mich, zwar schlecht, aber ich tat es. Als ich mit der Hilfe des Pflegers wieder im Bett lag, musste ich ihm versprechen keinem Arzt von unserem Unternehmen zu berichten. Total erschöpft, aber in großer Zufriedenheit schlief ich ein. Mein Wille hatte einen Sieg errungen. Es sollten weitere folgen, denn ich setzte mir neue Ziele.
Am Nachmittag kam Anne. Mit der Erwartung, dass sie meine Leistung entsprechend würdigen würde, berichtete ich über meine „ Unternehmungen“ am Morgen. Sie wollte dies nicht
nachvollziehen und sprach von einem unverantwortlichen Handeln. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie stolz auf mich war und die neue Willensstärke an mir schätzte, denn sie selbst ist eine starke und mit großem Willen ausgestattete Frau. Sie blieb wie an allen weiteren Tagen bis zum Abend bei mir, streichelte meinen Arm, zeigte mir ihre Zuwendung und versorgte mich. Dann ging sie nach Hause, machte ihre Unterrichtsvorbereitungen für den nächsten Tag und verrichtete den liegengebliebenen Haushalt. Ohne ihr Bei mir sein, ohne ihre Zuwendung hätte ich es nie geschafft. Sie sollte und wollte mich jeden Tag besuchen, aber ansonsten bat ich darum, die Besuche auf wenige Personen zu beschränken, um möglichst viel Ruhe zu haben und neue Kraft schöpfen zu können. Neben meinen Töchtern und deren Freunde besuchten mich nur mein Cousin und dessen Frau, die den Darmkrebs bei der Darmspiegelung entdeckten, sowie mein Hausarzt, ein Arzt, der mit mir in der Freizeit Fußball spielt, mein Bruder, mein Onkel und seine Ehefrau, zu denen ich schon seit meiner Kindheit ein besonders inniges Verhältnis hatte. Diese Besuche brauchte ich und sie waren gut für mich. Mehr wollte ich nicht haben außer dem Besuch meiner Mutter. Sie war jedoch gehbehindert. Ich teilte ihr mit, sie bräuchte nicht zu kommen Sie rief mich beinahe täglich an. Das genügte mir. Allen meinen Besuchern war gemein, dass sie sich alle erstaunt über meinen guten körperlichen und psychischen Zustand so kurz nach der Operation äußerten. Noch überraschter war mein Stellvertreter, der sich morgens aus der Schule telefonisch ankündigte. Als er eintraf, kam ich ihm, ja eilte ihm, wie er sich ausdrückte, auf dem Gang entgegen. Ich konnte einige Schritte selbstständig nach wenigen Tagen gehen. Eine Frage des Willens? Ganz sicher eine Frage des Trainings. Begonnen hatte ich mit ein zwei Schritten im Zimmer. Ines, Julia und Anne stützten mich abwechselnd bei meinen ersten Versuchen. Im Kreis umhergehend steigerte ich mich auf einige kleine Runden. Täglich versuchte ich dann weitere Strecken zurückzulegen. Die Ärzte, die mich bei meinen „Ausflügen“ auf dem Gang des Krankenhauses sahen, baten mich, mich nicht zu überanstrengen. Sie fanden aber meinen Bewegungsdrang toll und spornten mich an, mich regelmäßig zu bewegen. Jeden Tag machte ich große Fortschritte. Stolz machte sich in mir breit. Langsam konnte ich wieder leichte Nahrung aufnehmen. Nur die Verdauungsvorgänge bereiteten mir erhebliche Schwierigkeiten. Ein Zustand, der sich bis heute noch nicht wieder in der Art und Weise eingestellt hat, wie ich es vor der Krankheit gewohnt war. Die tägliche Frage des Krankenhauspersonals nach dem Stuhlgang musste ich zwei Tage verneinen. Deshalb sollte ich eine Flüssigkeit, nämlich Lactulose einnehmen. Das Medikament bewirkte, dass ich unzählige Male die Toilette aufsuchen musste. Mein Stuhlgang war am Ende durchtränkt mit Blutresten. Ich verfiel in Panik. Die diensthabende Krankenschwester versuchte mich zu beruhigen. Als sie jedoch auf meine Bitte hin die Ausscheidungen ansah, wollte sie unbedingt einen Arzt hinzuziehen. Meine Panik steigerte sich. Ich war wieder einmal verzweifelt. Der Gedanke an eine erneute Öffnung meines Bauches konnte ich nicht aus meinen Gedanken verdrängen. Heulend und gepeinigt von Zweifeln lag ich im Bett, als der zuständige Oberarzt mein Zimmer betrat. Er erklärte mir, dass die starken Durchfälle die gerade an den Operationsnähten entstandenen Wundschorfstellen abgelöst hätten. Sie verursachten die helle Rotfärbung und den Blutabgang. Ich müsse jetzt geduldig die weitere Entwicklung abwarten. Meine anfängliche Euphorie schlug um in einen Zustand des Zweifels und der Ungewissheit. Die Blutungen wurden geringer, aber die häufigen Stuhlgänge blieben erhalten, was nach Ansicht der Ärzte als normal nach der Darmoperation angesehen werden konnte. Zweifel, Ungewissheit, Ungeduld, Bangen und Hoffen waren in dieser Zeit mein ständigen Begleiter, da auch das Ergebnis der histologischen Gewebeuntersuchung des entfernten Darmstücks noch nicht vorlag. Würden die Lymphknoten metastasenfrei oder bereits befallen sein. Werde ich mich anschließend einer Chemo- oder Strahlentherapie unterziehen müssen? Wird vielleicht sogar eine Kombination von beiden notwendig sein? Oder reicht die Operation aus? Fragen, die ich mir jeden Tag stellte.
Eine Woche nach der Operation bereitete die junge Assistenzärztin dem bangen Warten ein erstes Ende. Sie erklärte mir, dass das endgültige Ergebnis noch nicht vorliegt, aber ein vorläufiger Bericht, den sie eben per Fax erhielt. „Das Gewebe ist metastasenfrei. Es ist ein N3 Tumor Es gibt Größen von Tumoren im Bereich von N1 bis N5. Die Größe ist zunächst zweitrangig, wichtig ist, dass der Tumor nicht gestreut hat“, sagte sie mir. Sie lächelte mich an und meinte, dass diese Nachricht ein Grund zum Freuen sei. Freude war jedoch in diesem Moment kein Gefühlszustand, den ich nachvollziehen konnte. Zu groß waren meine Anspannung und Erregtheit. Sofort rief ich Anne an und versuchte ihr mit meinen laienhaften Worten das Ergebnis der histologischen Untersuchung zu erklären. Ich glaubte eine gewisse Erleichterung wahrzunehmen. Der Besuch meines Hausarztes am Abend machte mir bewusst in welch glücklicher Situation ich mich jetzt eigentlich befinden sollte. Er meinte, dass dieses Ergebnis ein Grund wäre, eine Flasche Champagner zu trinken. Am Abend hatte ich noch ein längeres Gespräch mit der Nachtschwester. Sie freute sich mit mir und nicht nur in diesem Moment wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war, in dieses Krankenhaus zu gehen. Meine ursprünglichen Überlegungen erfüllten sich. Das Pflegepersonal vermittelte mir das Gefühl des Angenommenseins, des Angenommenseins als Mensch, der eine schwere Phase durchlebt. Ich wurde professionell betreut, aber das Fühlen als Kranker wurde nicht vergessen. Es war beglückend zu erfahren, dass hier kein „Darmkrebs“, sondern ein Wesen betreut wurde, das fähig ist zu Erfahrung von Leid, Freude, Trauer und Mitmenschlichkeit. Aus beruflicher
Distanz wurde menschliche Nähe. Nähe, die sich auch dokumentierte in der Tatsache, dass sich einige Krankenschwestern nach der Literatur erkundigten mit der ich mich in vielen Stunden des Tages beschäftigte. Tatsächlich kauften sie sich die entsprechenden Bücher und manchmal endete eine Untersuchung mit dem Austausch von Meinungen über einzelne Textstellen. Ich glaube daran, dass diese Erfahrungen einen erheblichen Teil zum Genesungs- und Heilungsprozess beitrugen.
Doch die Frage nach der weiteren Behandlung war immer noch offen. Am Montag, also eineinhalb Wochen nach der Operation, sagte mir bei der Visite der Oberarzt, dass er mir das Endergebnis der histologischen Untersuchung mitteilen könne. Das Gewebe sei metastasenfrei, aber die Größe des Tumors rechtfertige und verlange eine sogenannte adjuvante Strahlen – und Chemotherapie. Es sei jedoch meine Entscheidung, ob ich diese präventive Behandlung eingehen möchte. Das Ärzteteam rate mir jedoch dazu. Eine Entscheidung konnte ich nicht sofort treffen. Alle offenen Fragen über die Behandlung musste ich zuerst mit meiner Familie besprechen. Zuerst musste ich mir Informationen beschaffen über die angedachte weitere Therapie. Die Belastungen wurden nicht geringer, obwohl ich doch auch Grund zur Freude hatte, denn am Dienstag durfte ich das Krankenhaus verlassen und nach Hause gehen. Eine mir vorgeschlagene sich sofort anschließende Rehabilitationsmaßnahme lehnte ich ab. Dafür war sowohl mein körperlicher als auch seelischer Zustand nicht stabil genug.
Am Dienstagmorgen wusch und rasierte ich mich sehr früh. Ich zog das Hemd, die Krawatte, die Hose und den Sakko an, die ich bei meiner Krankenhausaufnahme trug. Es sollte ein Zeichen für meine Rückkehr in die Normalität sein, eine Rückkehr ins geregelte Alltagsleben. Normalität und geregelte
Tagesabläufe stellten sich jedoch nicht ein wie sich zeigen sollte.
Ines holte mich ab und fuhr mich nach Hause. Vor dem großen hölzernen Esstisch nahe am Kachelofen nahm ich sie in die Arme. Wir weinten beide.












Die Chemotherapie
Zuhause zu sein bedeutete Vertrautheit, Wärme und Geborgenheit. Nie wieder fühlte ich wie in diesen Tagen die Wichtigkeit dessen was man Zuhause nennt. Zuhause war zunächst Raum, war zunächst Wohnung. Wohnung in der sich Gegenstände befanden, die mich an bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse in meinem bisherigen Leben erinnerten. Jeder hatte einen eigenen Stellenwert. Da standen auf dem Kachelofen Bilder aus Annes und meiner Kindheit. Da schaute ich in Gesichter von Portraitaufnahmen als Anne und ich 17 Jahre alt waren. Anne mit schwarzem langem Haar, großen , immer wieder faszinierenden Augen, ich mit überdimensionalen Koteletten und langen Haaren. Eine Aufnahme aus unseren ersten Tagen des tiefsten Verliebtseins, eine Aufnahme, die unsere Töchter heute noch toll finden. Da stand ein Bild, das mich an unseren Aufenthalt in Namibia erinnerte, an eine Zeit in der wir die besondere und außergewöhnliche Stimmung und Eigenheit der phantastischen Landschaften und Sonnenuntergänge in jenem fernen Kontinent, gemeinsam, nur auf uns gestellt, erfahren, erleben und tief empfinden durften. Mit jeder Erinnerung wurden und werden die Eindrücke an Afrika tiefer und intensiver. Da standen Bilder von unseren Töchtern. Beide bildhübsch, stolz und selbstbewusst. Zuhause , Ort der Gebundenheit an Erinnerungen und Menschen, die mich annahmen und zu mir standen trotz meiner körperlichen Unzulänglichkeiten, trotz meines unendlichen Selbstmitleids, trotz meines seelischen Gespaltenseins.
Alles in dieser Zeit wurde gesteuert und überlagert durch die offene Antwort auf die Frage, ob eine Strahlen – und Chemotherapie für mich sinnvoll und notwendig war. Anne, Julia, Ines und ich führten deshalb viele Gespräche mit einander. Uns allen war bewusst, dass diese Maßnahme als
Prävention zu sehen war, denn alle inneren Organe und das entnommene Darmgewebe waren metastasenfrei. Allerdings hatte der Tumor aufgrund seiner Größe das darunter liegende Fettgewebe durchdrungen und die Gefahr eines Rezidivs konnte und kann nicht, wie ich in der Zwischenzeit weiß, ausgeschlossen werden. Im Zwiespalt der Gedanken und Gefühle zwischen Verdrängung der Folgen bei einer Ablehnung der Therapie und der Verantwortung für meine Frau und meine beiden Töchter, die ein Recht hatten auf Zukunft mit mir oder ohne mich, entschied ich mich nach einem langen Aufklärungsgespräch mit einem weiteren Cousin, der als Oberarzt auf einer onkologischen Station in einem Klinikum arbeitet, für die Durchführung einer adjuvanten Strahlen – und Chemotherapie. Der Entschluss war gefasst und der Gedanke an die bevorstehende Chemotherapie ließ mich nicht mehr los. Bilder von glatzköpfigen Erwachsenen und noch erschütternder von kahlköpfigen Kindern beschäftigten mich in meinen Gedanken. Angst befiel mich. Letztendlich glaubte ich aber keine Alternative zu haben. Die Entscheidung für eine Therapie erwuchs aus der Vernunft, glaubte ich zunächst. Sie war aber Antwort, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, auf die fragenden und bittenden Gesichter meiner Frau und meiner Töchter. Schaute ich sie an, hatte ich keine Wahl. Ihre Augen und Blicke sagten mir, dass ich die Strahlen – und Chemotherapie angehen muss. Deshalb bat ich meinen Cousin für mich einen Termin bei der Chefärztin des Strahlenzentrums in seiner Klinik zu arrangieren. Er vereinbarte einen Termin. Anne und ich fuhren mit dem Pkw in die Klinik. Auch dieser Tag war für mich wie alle bisherigen beschwerlich, denn trotz der Ratschläge einer Ernährungsberaterin meine Nahrung betreffend hatte ich einen permanenten Stuhldrang. Es war in diesen Tage keine Seltenheit, dass ich bis zu dreißig mal die Toilette aufsuchte und den Darm entleeren musste. Manchmal befürchtete ich, dass mein Lebens- und Aktivitätsraum sich auf die Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Metern von der Toilette beschränken
müsste. War das das Leben, das mir neu geschenkt wurde; war das die oft angesprochene Wiedergeburt? Auch an diesem Tag verzweifelte ich beinahe an diesen Fragen.
Nach einer kurzen Aufnahme der Personalien und einer ebenso überraschend kurzen Wartezeit wurden wir in das Sprechstundenzimmer der Chefärztin gerufen. Mit schon zur Gewohnheit gewordener Routine schilderte ich meine Krankheitsgeschichte, erläuterte die aktuellen Befunde und schilderte meine Bedenken und Ängste gegenüber den bevorstehenden ärztlichen Behandlungen. Die Ärztin bat mich, all das Erfahrene zur Seite zu legen und mich nur noch als ihren Patienten zu betrachten. Ein Verhältnis, das voraussetzt, dass ich in entsprechender Weise nur noch sie als meine Ärztin sehen sollte. So fühlte und dachte ich zumindest in der damaligen Situation. Das Gespräch endete in einer ersten Untersuchung und der Vereinbarung eines Termins für eine weitere Untersuchung des Bauchraums in den nächsten Tagen.
Zum vereinbarten Untersuchungstermin fuhr ich allein mit dem Pkw ins Klinikum. Wie in großen Kliniken üblich, wurde ich zunächst in ein anderes Gebäude verwiesen. Nach einigen Irrwegen fand ich den richtigen Gebäudetrakt und musste mich in die Warteschlange einreihen. Nach mehrmaligem Aufsuchen der Toilette erhielt ich einen Einlauf. Es war für mich eine schmerzhafte, unangenehme, ja teilweise herabwürdigende Art und Weise wie die Bediensteten auf meine Hinweise zur Berücksichtigung meiner Situation reagierten. Der Einlauf und die darauf folgenden Reaktionen meines Körpers erfuhr ich als Tortur und Qual. Ich konnte den Stuhl nicht mehr halten und wurde von den Schwestern unangenehm angesprochen. Die unpersönliche, sterile und kühle Untersuchung nach täglichem abgestumpften Muster verletzten meine Persönlichkeit und meine Psyche. Ich fühlte mich befreit, als die Untersuchung beendet war und ich mich mit dem Auto nach Hause begeben konnte.
Stilvoll und schön war der Mittagstisch gedeckt, mit Vor- und Nachspeisetellern, mit Wein- und Wassergläsern und mit einer brennenden Kerze. Es war ein besonderer Tag und doch gleichzeitig ein normaler Tag. Anne und ich versuchten jeden Tag zu einem besonderen Tag zu machen. Dazu gehörte auch ein Glas Rotwein, ein Glas Rotwein, das mir einige Ärzte unabhängig von einander empfahlen. Rotwein, Wasser, schönes Geschirr luden mich ein, aber ich war immer noch ein wenig verwirrt von der Untersuchung. Die Verwirrung sollte sich noch steigern und in totales Entsetzen und Niedergeschlagenheit verwandeln. Wir saßen gerade beim Mittagstisch, als das Telefon klingelte. Eine Ärztin des Klinikums an dem ich am Morgen untersucht wurde, war am Apparat. Sie versuchte mir schonungsvoll die Nachricht zu übermitteln, dass ich sofort ohne Aufschub meine Tasche packen und das Krankenhaus aufsuchen sollte in dem die Darmkrebsoperation vorgenommen wurde. Bei der Untersuchung habe man eine Nahtinsuffizienz, also eine Undichte des Darmes an der Operationsnaht festgestellt. Es gelte keine Zeit zu verlieren. Überwältigt von einem Heulanfall versuchte ich Anne die Nachricht der Ärztin zu erklären. Diese Diagnose bedeutete eine erneute Operation, obwohl die alte Naht noch nicht abgeheilt war. Diese Nachricht bedeutete Aufenthalt in der Intensivstation, diese Nachricht bedeutete Schmerz und Todesangst. Anne brach in Tränen aus. Es war für uns beide der totale Zusammenbruch nach all den Belastungen in den letzten Wochen. Sie richtete heftig weinend die Tasche und dann fuhren wir wieder zur Aufnahme ins Krankenhaus. Schon über das Untersuchungsergebnis informiert, erwartete uns eine Assistenzärztin im Sprechzimmer des Professors. Sofort nahm sie eine erste Untersuchung vor, konnte aber Gott sei Dank die mitgeteilte Diagnose nicht bestätigen. Sie wollte jedoch den Befund des Professors abwarten, der dann auch in das Sprechzimmer trat. Auch er hatte bereits Informationen aus der anderen Klinik erhalten. Er blickte mich an, wendete sein Gesicht zu meiner Frau und sagte: „ Nehmen Sie Ihre Frau, gehen Sie mit ihr nach Haus und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit ihr.“ Er erklärte uns nach einer kurzen Untersuchung, dass mein Bauchraum bei einer Nahtinsuffizienz des Darmes komplett verhärtet sein müsste. Außerdem müsste ich hohes Fieber haben und starke, kaum zu ertragende Schmerzen. Ziemlich erzürnt fügte er hinzu, dass es unverantwortlich wäre, eine ärztliche Diagnose vorzunehmen, ohne den Patienten gesehen zu haben. In diesem Augenblick hatte ich das Vertrauen in das Krankenhaus verloren, in dem ich ursprünglich die Chemo- und Strahlentherapie vornehmen lassen wollte. In Absprache mit dem Professor entschlossen sich Anne und ich, uns bei der weiteren Behandlung den Ärzten in unserem Kreiskrankenhaus anzuvertrauen. Wie so oft im Leben erwies sich eine Situation, die zunächst die schlimmsten Befürchtungen in uns weckte, bald als Glücksmoment. Wie erwähnt, war von medizinischer Seite geplant, eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie anzugehen, eine Maßnahme, die jeden Menschen an die Grenzen seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit führt und vor der ich große Angst hatte. Bereits beim ersten Sprechstundentermin erklärte mir der Leiter der medizinischen Klinik, dessen Spezialgebiet der Magen- und Darmtrakt ist, dass er von einer Strahlentherapie absehen will, da ich eine Stenose hätte. Das Darmendstück sei durch die Operationsnaht verengt und bei der Durchführung einer Strahlentherapie würde eine weitere Verengung eintreten, die zu großen Problemen bei der Stuhlentleerung führen könnte. Die Strahlentherapie wurde abgesetzt.
Es war Ende November und die erste Staffel der Chemotherapie stand bevor. Die Zeit wurde zu einer Zeit, die von den Gedanken besetzt war: Wie wird mein Körper reagieren? Werde ich meine Haare verlieren? Werde ich die körperlichen und seelischen Kräfte aufbringen, um die Substanzen, die als Helfer zur Abwehr der Krankheit gedacht sind, zu ertragen. Fragen, die mich und meine Familie beschäftigten und beunruhigten. Doch vor der Chemotherapie
wurde wiederum eine Koloskopie angesetzt. Davor hatte ich in der Zwischenzeit keine Angst mehr – niemand braucht vor einer Darmspiegelung Angst oder Scheu haben. Meine unangenehmen Gedanken an diese Untersuchung beziehen sich nur auf die vorausgehende Notwendigkeit vier Liter einer scheußlich schmeckenden Flüssigkeit zu trinken und an den sich anschließenden Stuhlgang zur Reinigung des Darmes. Die eigentliche Untersuchung beginnt mit dem Umkleiden. Am Tag der Untersuchung zog ich wie gewohnt eine Hose an, die den Öffnungsschlitz nicht vorne, sondern auf der Rückseite hat. Auf die Bitte der assistierenden Helfer legte ich mich auf eine Untersuchungsliege. Ich erhielt eine Beruhigungsspritze in die Braunüle, die in der Zwischenzeit gelegt war. Sofort spürte ich
ihre Wirkung und der Arzt führte die Untersuchungssonde rektal in meinen Körper ein. Am Bildschirm konnte ich die Untersuchung mitverfolgen. Es hatte sich kein Rezidiv gebildet. Die Chemotherapie konnte beginnen.
Es war an einem Montag, als ich die Klinik um 8.30 Uhr aufsuchte. Die beiden Sekretärinnen begrüßten mich freundlich und baten mich ins Behandlungszimmer. Ein junger Assistenzarzt legte die Braunüle für die erste Infusion. Die Hände in sterile Handschuhe gehüllt entnahm die Sprechstundenhilfe den Beutel mit der Infusionsflüssigkeit einem Karton. Erst später wurde mir bewusst, dass sie diese Handschuhe nicht allein aus Hygienegründen trug. Sie trug sie auch, damit ihre Haut nicht in Berührung kam mit der giftigen Substanz Sie öffnete den Zufluss und die ersten Tropfen der Flüssigkeit tröpfelten in meinen Körper. Ich beobachtete den Beutel, der langsam von oben herab in sich zusammensank. Die Flüssigkeit reduzierte sich und nach dreißig Minuten zirkulierten erstmals die giftigen chemischen Substanzen in meinem Körper. Ich empfand dies noch nicht als Bedrohung. Die erste Sitzung war beendet. Die Sprechstundenhilfe legte einen Verband an, der die Braunüle schützen sollte. Sie blieb in meinem Arm für die Infusion am nächsten Tag. Am Ende der Woche stellte ich glücklich fest, dass ich die erste Staffel der
Chemotherapie ohne außerordentliche Nebenwirkungen und negativen Begleiterscheinungen überstanden hatte.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien machte ich einen Besuch in meiner Schule. Meine Sekretärin und der Hausmeister begrüßten mich mit einer innigen Herzlichkeit. In ihren Umarmungen spürte ich Mitgefühl. Mitgefühl, Herzlichkeit, gleichzeitig auch Betroffenheit über meinen körperlichen Zustand und mein Aussehen prägten die Gesichter und Gesten meiner Kolleginnen und Kollegen. Überall umgab mich aber Wärme. Es war schön zu erfahren, dass ich Mensch sein durfte, auch wenn ich nicht wie von früher gewohnt an dieser Stätte arbeiten konnte.
Weihnachten stand vor der Tür und auch dieses Jahr schrieb ich wieder einen Brief an unsere Freunde und Verwandten.

Weihnachten
In unserem Weihnachtsbrief vom letzten Jahr formulierten wir auch die Gedanken:
Leben ist oft ein unvorhergesehener Kampf,
Leben ist oft Kummer und Leid,
Leben ist oft ein nicht zu entschleierndes Mysterium.
Gewiss ist Leben von Anfang an ein Geschenk.
Bekommt man das Leben ein zweites Mal geschenkt, ist dies nicht Glück, sondern Zuwendung, Zuneigung und Gnade.
Wir wünschen euch ein schönes Weihnachtsfest und für das Jahr 2003 viel Freude , Glück und besonders das kostbare Gut der Gesundheit.
Anne und Josef

Ja, jemand schenkte mir das Leben ein zweites Mal. Das Leben wurde mir geschenkt, das kostbare Gut der Gesundheit galt es jedoch wieder zu erlangen, was meinen Einsatz erforderte. Meinen Einsatz auch während der Chemotherapie. Am 27. Dezember begann die zweite Periode. Die Dosierung und inhaltliche Zusammensetzung der chemischen Substanzen wurde entsprechend der standardisierten ärztlichen Festlegungen im Vergleich zur ersten Staffel verändert. Schon nach dem ersten Tag der Therapie reagierten mein Körper und meine Psyche auf die Behandlung. Plötzlich entzündeten sich die Schleimhäute in meiner Mundhöhle und die Nahrungsaufnahme bereitete mir große Schwierigkeiten, Selbst die Spitze eines Reiskornes reizte meine Mundschleimhäute so
sehr, dass ich während des Essens vor Schmerzen weinen musste. Mit den Veränderungen an meinem Körper veränderte sich auch meine Psyche. Ich entwickelte eine nie an mir in diesem Ausmaß wahrgenommene Sensibilität. Viele Gespräche mit Anne und meinen Töchtern endeten in Tränen. Gleichzeitig wurde die seelische Bindung zu ihnen in dieser Phase immer tiefer und inniger. Vielleicht verstand ich das Leben und die Gefühle meiner Mitmenschen und meine eigenen nie so tief wie in dieser Zeit und in der Zeit, die mich noch erwartete und die ich durchstehen musste.
Wieder waren es Veränderungen in meinem Körper, die mich – so empfinde ich es zumindest – an die Grenze meiner Belastbarkeit führten. An Silvester erhielt ich morgens eine weitere Spritze im Rahmen der Chemotherapie. Das Krankenhaus war an diesem Morgen beinahe leer, nur die Patienten mit schweren Krankheiten verblieben über Neujahr in ihren Betten. Die weniger schweren Fälle durften an Silvester kurzfristig nach Hause. Das Personal war auf ein Minimum reduziert. Der diensthabende Arzt, der mir die Flüssigkeit injizieren sollte, hatte wenig onkologische Kenntnisse. Ihm war unbekannt, wie er spritzen sollte. Langsam über einen Zeitraum von fünfzehn bis zwanzig Minuten oder rasch innerhalb von drei bis fünf Minuten. Er entschloss sich für die erste Möglichkeit, also für die „langsame Injektion“, die schließlich dreißig Minuten andauerte. Diese dreißig Minuten waren gefüllt von einem freundlichen und angenehmen Gespräch. Ich fühlte mich akzeptiert, gut betreut, auch wenn das Wissen des Arztes auf dem Gebiet der Krebstherapie mir gering erschien. Seine Natürlichkeit, Offenheit und menschliche Wärme halfen mir in diesem Moment mehr als exzellente wissenschaftliche Kenntnisse über einen Krankheitszustand und der damit verbundenen Therapie.
Am Nachmittag sah ich zufällig, dass sich an meinen beiden Unterarmen braune Streifen bildeten. Ich wusste nicht wie ich die Hautveränderungen deuten sollte und befürchtete Schlimmes. Angst befiel mich, aber ich konnte sie nicht wie manchmal vorher überspielen und vergessen. Ich fühlte mich schlecht. Am frühen Silvesterabend suchte ich die Klinik auf, da die Angst stärker war und ich nicht vor ihr davon laufen konnte. Der diensthabende Arzt war auf Station und ein Pfleger schaute sich die Hautveränderungen an meinen Armen an. Er erklärte mir, dass sie nichts Außergewöhnliches sei. Sie rührten her von der Chemotherapie. Die Venen seien „verbrannt“. Früher als die Dosierungen noch nicht so individuell auf den Patienten abgestimmt werden konnten, seien diese Erscheinungen üblich gewesen. Die „Verbrennungen“ gehörten als mögliche Folgeerscheinung zur Therapie dazu. So fuhr ich wieder nach Hause. Ein Glas Rotwein zum „Dinner for one“ und eine große Erschöpfung beendeten den Silvestertag. Anne und ich gingen früh zu Bett.
Die zweite Staffel der Chemotherapie war beendet und mein körperlicher und seelischer Zustand näherten sich immer mehr einem Tiefpunkt. Ich hatte das Gefühl zu leiden. Das Blutbild verschlechterte sich und mein Gewicht reduzierte sich immer mehr. Doch die dritte Staffel konnte nach einer dreiwöchigen Pause nach den ärztlichen Untersuchungsergebnissen beginnen. Mein Körper sollte die weitere Behandlung verkraften, wovon ich selbst nicht überzeugt war. Immer mehr hatte ich das Gefühl, dass das eigentliche Leben an mir vorbei ging. Ich war reduziert auf meine Chemotherapie, auf meinen Schmerz, auf mein Selbstmitleid. Gerade das Selbstmitleid schien meine Gedanken immer mehr zu bestimmen. Gleichzeitig gab ich aber den Kampf ums Leben, den Kampf um etwas, das mir so viel bedeutete nicht auf. Ich wollte trotz der schlimmen körperlichen Erfahrungen kämpfen. Anne, Ines und Julia liebten mich. Ich wollte sie nicht - vielleicht aus Egoismus - verlassen. Vielleicht ging es mir weniger um sie als um mich. Ich liebte und lebte gerne. Deshalb wollte ich kämpfen. Ich wollte kämpfen, obwohl manchmal der Eindruck entstehen konnte, ich würde nur jammern und klagen. Ich fühlte, dass Leben sich nur in mir ereignen kann, dass Leben sich nur in der Begegnung mit Anne und meinen Kindern ereignen kann. Vielleicht ist das – aus meinem heutigen Blickwinkel betrachtet – der Grund dafür, dass Anne und ich so fixiert sind auf uns. Es kann einem Außenstehenden nur schwerlich gelingen in unsere „Zweisamkeit“ einzudringen. Oftmals habe ich dies bedauert, manchmal auch mit Vorwürfen gegenüber Anne versehen, da sie nie ein Mensch war, der stark auf andere fixiert war und der vieler Freunde bedurfte. Sie war sich selbst genug. Ich lernte dazu, dass wir uns selbst genug waren, was ich vor meiner Krankheit nicht realisieren wollte. Man muss sich geradezu selbst genug sein, denn sonst kann man eine solche Situation nicht überleben. Nur wer sich selbst genug ist, wird ertragen können, dass sich angebliche Freunde von einem zurückziehen und zu Bekannten werden. Nur mit dieser Erkenntnis ist man stark genug zu überleben. Die Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit der anderen richtet einem sonst zu Grunde. Ich wollte nicht zu Grunde gehen. Ich wollte überleben, ich wollte leben. Das versuchte ich.
Es war Anfang Februar. Mein körperlicher Zustand verschlechterte sich. Trotz der liebevollen Zubereitung des Essens durch Anne, die mit Einfühlungsvermögen und Geduld versuchte mich zu tragen und zu ertragen, was nicht einfach war, konnte ich kaum mehr Nahrung im herkömmlichen Sinn aufnehmen. Meine Schleimhäute im Mund waren so in Mitleidenschaft gezogen, dass ich bei der Aufnahme normaler Nahrung durch die Reizung große Schmerzen verspürte. Letztendlich konnte ich nur noch sogenannte Astronautennahrung in flüssiger Form zu mir nehmen. Ich verlor immer mehr an Gewicht und wog schließlich kaum noch siebzig Kilogramm. Betrachtete ich mich im Badspiegel, fand ich mein Aussehen trotzdem nicht unangenehm oder besorgniserregend.
Die dritte Staffel der Chemotherapie war vorüber. Ganz schlecht fühlte ich mich nicht, aber mein Allgemeinzustand gab keinen Anlass zur Freude. Häufig war ich sehr müde und die Zahl der Stuhlgänge war immer noch hoch. In der Zwischenzeit hatten Anne, Julia und Ines auf meine Bitten ein Bett in meinem Arbeitszimmer aufgeschlagen, da es nicht außergewöhnlich war, wenn ich in der Nacht drei bis fünf mal die Toilette aufsuchen musste. Meine zunehmenden Schlafstörungen sollten sich nicht auf Anne übertragen, die ihre Aufgaben im Beruf und als Hausfrau trotz meiner und gerade wegen meiner Krankheit nicht vernachlässigen wollte. Ich wollte ihr Nachtruhe gönnen, obwohl ich ihren Atem und ihre Nähe in den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte, sehr vermisste. Die Schlafstörungen steigerten sich und in vielen Nächten lag ich wach und dachte über mich, mein Schicksal, über das weitere Zusammenleben mit meiner Frau und meinen Kindern, über unsere gemeinsame Zukunft nach. Manchmal überkamen mich Zweifel, ob es für mich überhaupt noch einen Zukunft geben kann. In dieser Zeit wurden mir zwei Büchlein wieder besonders wichtig, die ich in schlaflosen Nächten las. Es waren dies einmal die „Desiderata“, die in einfachen klaren Worten und Formulierungen Erkenntnisse und menschliche Erfahrung wiedergibt, die in philosophischen Abhandlungen ganze Bände füllen. Sie gaben mir Halt, Zuversicht, Kraft und auch Lebensmut. Ich lernte die Sätze auswendig und bin heute noch in der Lage, sie zu zitieren. Sie lauten:
„Geh deinen Weg gelassen im Lärm und in der Hektik dieser Zeit, und behalte im Sinn den Frieden, der in der Stille wohnt.
Bemühe dich mit allen Menschen auszukommen soweit es dir möglich ist, ohne dich selbst aufzugeben.
Sprich das, was du als wahr erkannt hast, gelassen und klar aus, und höre anderen Menschen zu, auch den
Langweiligen und Unwissenden, denn auch sie haben etwas zu sagen.
Meide aufdringliche und aggressive Menschen, denn sie sind ein Ärgernis für den Geist.
Vergleiche dich nicht mit anderen, damit du nicht eitel oder bitter wirst, denn es wird immer Menschen geben, die größer sind als du, und Menschen, die geringer sind.
Erfreue dich an dem, was du schon erreicht hast, wie auch an deinen Plänen.
Bleibe an deinem beruflichen Fortkommen interessiert, wie bescheiden es auch sein mag, es ist ein echter Besitz in den Wechselfällen der Zeit.
Sei vorsichtig in deinen geschäftlichen Angelegenheiten, denn die Welt ist voller Trug. Lass dich jedoch dadurch nicht blind machen für die Tugend, die dir begegnet.
Viele Menschen haben hohe Ideale, und wo du auch hinsiehst, ereignet sich im Leben Heldenhaftes.
Sei du selbst, und, was ganz wichtig ist, täusche keine Zuneigung vor.
Hüte dich davor der Liebe zynisch zu begegnen, denn trotz aller Dürreperioden und Enttäuschungen ist sie beständig wie das Gras.
Nimm den Rat, den dir die Lebensjahre geben, freundlich an, und lass ab von dem, was zur Jugendzeit gehört.
Stärke die Kraft deines Geistes, damit sie dich schützt, wenn dich ein Schicksalsschlag trifft. Doch halte deine Phantasie im Zaun, damit sie dich nicht in Sorge versetzt.
Viele Ängste wurzeln in Erschöpfung und Einsamkeit.
Übe gesunde Selbstdisziplin, aber vor allem sei gut zu dir.
Du bist ein Kind des Universums, nicht weniger als die Bäume und die Sterne. Du hast ein Recht da zu sein.
Und ob es dir bewusst ist oder nicht: Ganz sicher entfaltet sich das Universum so wie es ihm bestimmt ist. Lebe daher in Frieden mit Gott, wie auch immer du ihn dir vorstellst.
Und worauf du deine Anstrengungen auch richtest, was es auch ist, das du erstrebst im lärmenden Durcheinander des Lebens sei mit dir selbst im Reinen.
Trotz allen Trugs, aller Mühsal und aller zerbrochenen Träume ist die Welt doch wunderschön.
Sei heiter.
Strebe danach glücklich zu sein.“

Ein weiteres Buch, das mich seit zwanzig Jahren auf allen Reisen und Urlaubstagen begleitete, verkürzte mir auch die Nächte. Es ist von Willi Weischedel und trägt den Titel „Die philosophische Hintertreppe“. Ein Buch, das sich über die „Hintertreppe“, über die Beschreibung der Eigenschaften und Eigenheiten bestimmter Philosophen, deren Thesen, Grundgedanken und philosophischen Erkenntnissen nähert. Überhaupt nahm die Philosophie in meinen Gedanken jetzt wieder einen breiteren Raum ein, obwohl ich mich nie seit dem frühen Tod meines Vaters als ich dreißig Jahre alt war, von ihnen entfernte. Viele Gedanken, die vorgedacht waren, beschäftigten mich und halfen mir meine Situation besser zu verstehen und zu akzeptieren. Gleichwohl erkannte ich, dass meine eigenen Gedanken entscheidend waren, das zu durchdringen, was notwendig und wichtig war, um mein neues Leben zu ordnen und zu gestalten.
Trotz aller Beschäftigung waren die Nächte lang und einsam. Sie waren oft gefüllt mit Tränen, Angst, Zweifeln und großem Selbstmitleid. Aber sie vergingen und bei Tag versuchte ich, so weit ich dazu fähig war, Anne zu unterstützen. Manchmal konnte ich auf dem Markt oder in Geschäften einkaufen und das Mittagessen vorbereiten bis Anne aus der Schule nach Hause kam. An solchen Tagen hatte ich das Gefühl nicht wertlos zu sein. Ich war nicht wertlos, obwohl ich gleichzeitig den Eindruck gewann, dass ich für einige meiner Freunde nichts mehr bedeutete und wert war. Sie hielten sich fern von mir. Ich erhielt wenig Anrufe. Wenige besuchten mich. Darunter habe ich oft gelitten, aber heute glaube ich begriffen zu haben, dass sich dahinter vielleicht nicht Gleichgültigkeit oder Teilnahmslosigkeit verbargen, sondern große Unsicherheit und Hilflosigkeit wie man einem Menschen begegnen sollte, der Krebs hatte, einem Menschen, dem eventuell der Tod bevorstand. Was sollte man einem solchen Kranken sagen? Was verletzte ihn vielleicht? Was tröstete ihn? Ist es besser mit ihm zu reden oder einfach weg zu bleiben? Unsicherheit beherrschte ihr Verhalten. Vielleicht kommt dies zum Ausdruck in einem Brief, den mir die Cousine meiner Frau schrieb.
Hallo Sepp,
vor einigen Minuten habe ich den Hörer aufgelegt – unser Gespräch hat mich doch sehr betroffen gemacht! Ich kann dies am Telefon nicht zum Ausdruck bringen, woran das liegt, habe ich selbst noch nicht herausfinden können. Je älter ich werde, desto lieber ist mir in solchen Situationen eine persönliche Begegnung, ich hätte Dich einfach in den Arm genommen und Du hättest gespürt, was ich dir sagen möchte! Dir, Anne und euren Töchtern möchte man aufmunternde Worte sagen, Trost zusprechen und Hoffnung spenden – aber am Telefon gelingt mir das leider schlecht als recht! Man hat gut reden, wenn man nicht betroffen ist von einem solchen Schicksalsschlag, und ich möchte nicht „gut reden“.
Ich will dir aber sagen, dass uns das wirklich schockiert und betroffen gemacht hat. Es tut uns so leid, dass so viele Ängste, Sorgen und Fragezeichen bezüglich der Zukunft Deinen Alltag bestimmen und Deine Familie belasten, wenn wir könnten, würden wir so gerne helfen, diese Last zu tragen! Ich werde trotzdem wieder anrufen, obwohl ich am Telefon etwas „unbeholfen“ wirke, werde fragen, wie es Dir geht und dadurch versuchen, Dir zu zeigen, dass wir ganz fest an Dich und Deine Familie denken und Dir von ganzem Herzen wünschen, dass Du wieder ganz gesund wirst und ganz viele Tage ohne Angst und Fragezeichen genießen kannst, es wird bestimmt alles wieder gut, glaube ganz fest daran!
Wenn ich Dir jetzt ein Lied singen könnte, würde ich die vierte Strophe wählen von „Welche Farbe hat die Welt“:
Rot, ist die Liebe, sie darf niemals vergehn,
wenn du erst einmal groß bist, wirst du das verstehn.
Denn bist du ohne Liebe, dann fehlt dir auch das Glück,
wenn du sie später findest, denk an mein Wort zurück.
Ich denke, Du hast ganz viel Liebe um Dich, das ist gut, für Dich und Anne, für Julia und Ines!
Wir wünschen Dir von Herzen
gute Besserung
und ganz liebe Grüße an alle,
besonders an Dich
Sepp und Doris
Der Brief erfreute mich und tat mir gut. Trotzdem fühlte ich mich in dieser Zeit vergessen. Viele Menschen, die mir etwas bedeuteten, mieden mich wie jemand, der an Ai